Girls at war. Zur Anatomie des Mädchenopfers

Diana Weis

Mein heimliches Auge - Jahrbuch der Erotik 2009 /10, Berlin 2009

„She was a girl, unfit to become a woman.“
A.M. Homes, The End of Alice

Die Geschichte dieses kleinen Mädchens beginnt und endet im Krieg. Die Füße mit schwarzen Schnürstiefelchen bekleidet, das dunkelblonde Haar zu Zöpfen geflochten, läuft das etwa fünfjährige Kind durch die Wirren des in Liquidation befindlichen Warschauer Ghettos. Es trägt einen Mantel, so rot wie die Liebe und das Blut. Später erkennt der Zuschauer es auf einem Leichenwagen wieder.

Nicht erst seit ihrer funktionalen und institutionalen Vermarktung im 20. Jahrhundert ist die Figur des kleinen Mädchens als Opfer und Heldin diejenige kulturelle Ikone, an der die äußersten Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen verhandelt und fassbar gemacht werden. Im Bedeutungsgeflecht von Schuld und Unschuld, Gewalt und Sexualität ist die Figur des kleinen Mädchens sowohl Trumpfkarte als auch kleinster gemeinsamer Nenner. Als Prototyp des Opfers garantiert das weibliche Kind maximale Fallhöhe, so dass die an ihrem Körper verübten Verbrechen umso abscheulicher erscheinen.
Das „Mädchen im roten Mantel“ ist das Schlüsselmotiv in Steven Spielbergs’ Film „Schindlers Liste“ (1993), einem Versuch, den Schrecken des Holocausts in einem Hollywood-kompatiblen Format abzubilden. Spielberg entschied sich für die Figur des kleinen Mädchens, um Gewalt auf angemessen verstörende und dabei leicht konsumierbare Weise fassbar machen.
Die symbolische Bedeutung des kleinen Mädchens als Opfer und Heldin und ihre Strahlkraft als Märtyrerfigur sind keine Erfindung des Regisseurs, vielmehr bedient er sich eines bereits etablierten, kulturell durchgeformten Archetypen, wie er in „Mythen und Märchen, [...] und in psychotischen Phantasieprodukten“ erscheint.
Indem Spielberg das Rot ihres Mantels mit einem tautologischen Kunstgriff als einzigen Farbflecken dem ansonsten in schwarz-weiß gehaltenen Material gegenüberstellt, wird die Figur des kleinen Mädchens überdeutlich als Ikone markiert: Millionen Opfer, Männer, Frauen und Kinder, komprimieren sich in ihrer zierlichen Gestalt zu einem Körper von unendlicher Dichte.
Ist von der Figur des kleinen Mädchens die Rede, so ist eine Figur gemeint, deren visuelles Erscheinungsbild in besonderer Weise dazu geeignet scheint, die moralischen Werte der Gesellschaft, die ihr Bild hervorbringt, zu bestätigen und zu reproduzieren.
Aus dem Figurenkatalog der westlichen Populärkultur zeigen die Beispiele Rotkäppchen, Anne Frank und die beiden in spektakulärer Weise durch die Medien gegangenen Verbrechensopfer JonBenet Ramsey und Madeleine McCann, dass die Vertreterinnen dieses Typus mehr als nur eine „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein) verbindet.
Es handelt sich dabei um ein im Idealfall blondes, jedenfalls aber hellhäutiges (weißes) Kind, dessen Gesichtszüge dem werbetauglichen Schönheitsideal entsprechen und dem jegliche Attribute einer nostalgischen Mädchenhaftigkeit, wie Schleifen, Rüschen, Zöpfe etc., zuträglich sind. Der Figur des kleinen Mädchens stehen die potenten Feinde Böser Wolf, Nazi und Pädophiler („Schwarzer Mann“) als Personifizierungen des Anderen, des Bösen gegenüber.
Im Unterschied zu C.G. Jungs’ Beschreibung des Kinderarchtypen als „zwiegeschlechtige Urwesen“, handelt es sich bei den hier genannten Konstellationen eindeutig um gendered bodies. Im Kontext Märchen, Krieg, Pornografie ist die Stossrichtung der Gewalt festgelegt und bestätigt auf den ersten Blick die patriarchale Machtstruktur, welche den Täter als männlichen und das Opfer als weibliches kennzeichnet.

An einem weiteren Kriegsschauplatz begegnen wir dem kleinen Mädchen erneut: wieder ist ihr blondes Haar zu Zöpfen geflochten und diesmal noch mit hellen Schleifen versehen. Sie läuft über ein Feld, vorbei an Bäumen und bunten Blumen, im Hintergrund sind bereits ihre Verfolger, berittene Soldaten zu erkennen. Das kleine Mädchen ist nackt, das Leuchten ihrer rosafarbenen Haut verdeutlicht die ihre Schutzlosigkeit und ihr Ausgeliefertsein auf herzzereißende Weise. Erst auf den zweiten Blick fällt dem Betrachter auf, dass sich zwischen ihren Beinen ein Penis befindet.

Die Darstellung stammt aus dem Nachlass des Hausmeisters Henry Darger. Nach seinem Tod im Jahr 1972 wurde in einem Chicagoer Zimmer, in dem er zur Untermiete wohnte, ein aus über 15,000 handgeschriebenen Seiten bestehender Roman mit dem Titel „The Realms of the Unreal“ gefunden, der einen epischen Krieg zwischen Mädchen und Männern beschreibt.
Weitaus faszinierender als der sich im militärischen Details erschöpfende und bis heute bis auf wenige Auszüge unveröffentlichte Text sind die über 300 Illustrationen, die Darger seinem Roman beigefügt hatte und die ihn posthum zu einem der berühmtesten (und teuersten) amerikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts machen sollten. Seine Bilder zeigen hunderte kleiner Mädchen, platziert in einer bizarren Psychogeografie aus utopischen Landschaften, Konzentrationslagern und blutigen Schlachtenszenen. Oft sind die Figuren nackt und fast immer haben sie einen Penis.
Darger, der niemals eine künstlerische Ausbildung genossen hatte und sich selbst als nicht in der Lage dazu sah, den menschlichen Körper zu zeichnen, entwickelte mit der Zeit eine eigene Technik, die im obsessiven Sammeln, Ausschneiden, Durchpausen und Fotokopieren von Mädchendarstellungen bestand. Ein besonders geeignetes Arsenal an Mädchenfiguren fand Darger in Werbebroschüren und Cartoons.
Im Zuge dieser stetigen Re-Produktionsprozesse wurde die Kleidung der Mädchen subtrahiert, der Penis addiert.
Viel ist bereits über Dargers psychosexuelle Verfassung spekuliert worden: Ist es möglich, das ein erwachsener Mann, wenn auch ein Sonderling und Einzelgänger, nicht wusste, wie die weibliche Anatomie beschaffen ist?
Während die eine Seite Darger die Naivität eines Kindes unterstellt, sammelt die Gegenseite Indizien. Im Mai 1911 wurde in Chicago die zehnjährige Elsie Paroubek ermordet aufgefunden, der Fall wurde nie aufgeklärt. In Dargers Zimmer wurden Zeitungsausschnitte und Bilder des Mädchens gefunden. War Darger der Mörder?
Die Unschärfe, die die Rezeption von Dargers Werk begleitet, liegt in seiner Person begründet. Über Dargers eigene Kindheit sind nur wenige Fakten bekannt: vier Jahre nach seiner Geburt im Jahr 1892 verstarb seine Mutter, mit acht Jahren gab ihn sein Vater in ein katholisches Kinderheim, von dort wurde der Junge in das berüchtigte Lincoln Asylum für „schwachsinnige“ Kinder verlegt, einer geschlossenen Anstalt dickensischen Zuschnitts. Niemand weiß genau, welche Misshandlungen der junge Darger am eigenen Leibe hat erfahren und welche er hat Mitansehen müssen. In seinen Bildern wechseln märchenhafte Darstellungen friedlich spielender, von mächtigen Fabelwesen beschützter Kinder mit albtraumartigen Schlachtenszenen, bei denen kleine Mädchen auf unerträglich grausame Weise getötet, verstümmelt, zerstückelt, ausgeweidet und an Kreuze geschlagen werden.
Neben den überaus plastischen Darstellungen von Gewalt ist es vor allem die verwirrende Anatomie der Opfer, die beim Betrachter ein Gefühl des Unbehagens auslösen.
 
Da Freud kein Philosoph war, lehnte er es ab, die Geschlechtkategorie vom Genitalen loszulösen und ins Metaphysische zu erweitern. Geht es nach ihm, besitzt ein Mädchen keinen Penis und leidet darunter. Ein Kind das Zöpfe trägt und einen Penis besitzt, wäre demnach ein Transvestit, also ein Knabe, der sich als Mädchen verkleidet.
Der in Berlin lebende Künstler Stu Mead hat sich in einem Interview, als Antwort auf die Frage, warum er in seinen Bildern immer wieder auf die Figur des kleinen Mädchens als Projektionsfläche zurückgreifen würde, einmal selbst als „Transvestiten“ bezeichnet., obwohl er keine Frauenkleidung trägt.
Wegen ihrer puppenhaften Hübschheit und ihrer in Gefahrensituationen aggressiv zur Schau gestellten Reinheit und Unschuld, wurden Meads’ Mädchenbilder oft mit denen von Darger verglichen. Was sie unterscheidet, ist ihr explizit sexueller Gehalt: die Mädchen lüpfen ihre Kleider, stellen ihre Körper lasziv zur Schau, räkeln sich auf Betten, Diwanen und in öffentlichen Badeanstalten, sie masturbieren, defäkieren und urinieren mit ungehemmter Lust am eigenen Körper. Sodomie, Zoophilie, Inzest, Fellatio, Homosexualität und Blasphemie vervollständigen das Panoptikum der Perversitäten, in dem die kleinen Mädchen nicht als Opfer, sondern als raffinierte Verführerinnen agieren. Der (männliche) Zuschauer als Voyeur ist dabei nicht nur implizit anwesend, sondern oft Teil der Komposition. Männliche Figuren erscheinen als „teuflische Fabelwesen (unter ihnen auch Pfarrer, Lehrer, Polizisten und Jesus höchstpersönlich), welche – zumeist im religiösen, strafenden oder examinierenden Kontext – sich eben diesen Mädchen unsittlich nähern oder sie kopulieren [...] großnasige Greise und lüsterne Zwerge, die sich über das ausgefaltete Mädchenfleisch hermachen, sich dessen Kommando ergeben oder es aus voyeuristischer Distanz betrachten.
Ähnlich wie Darger, bedient sich Mead bei der Physiognomie seiner Mädchen-Figuren bei Vorbildern aus der Populärkultur und den Massenmedien, schon als Kind schnitt er die in den USA auf Milchkartons gedruckte Fotografien vermisster Mädchen aus, um sie aufzuheben, allerdings nur, wenn sie „hübsch“ waren. Auch seine Mädchen tragen meist Schleifen im Haar und weiße Söckchen zu kurzen Rüschenkleidern. Auf die Ausarbeitung der männlichen Figuren verwendet Mead dagegen weit weniger Sorgfalt, oft erscheinen sie als lächerlich, hässlich und deformiert.
Texte, die sich mit den Arbeiten von Stu Mead befassen, ziehen immer wieder die Körperbehinderung des Künstlers als mögliches Erklärungsmodell heran, indem angedeutet wird, Mead würde sich aus einem Gefühl der Minderwertigkeit heraus mit der Figur des Mädchens identifizieren. Mead kam 1955 kam ein Minneapolis mit Arthrogryposis zur Welt, einer angeborenen Fehlbildung der Gelenke. In einem Interview erzählt er:
„Als ich ein Kind war, haben mich Ärzte auf ein Podest gestellt und haben Fotos von mir gemacht, für ihre medizinische Forschung. Ich fand das furchtbar, da so nackt angestarrt zu werden. Ich glaube, ich projiziere diese Erfahrung auf Frauen, weil sie da kulturell besser hin passt.“
Die Figur des kleinen Mädchens wird hier nicht als Identifikationsmodell einer als defizitär verstandenen Männlichkeit genannt, vielmehr repräsentiert sie die universelle Erfahrung des Ausgeliefertseins und der Schutzlosigkeit.
Ebenso wie auf Dargers Bildern, sind Meads Mädchenfiguren  durchaus dazu in der Lage, sich erfolgreich gegen ihre Verfolger zu wehren. Sie können Männer quälen, verletzen und sogar töten. Meads Bilder sind von sind von „unzähligen offenen oder versteckten Spiegelungen, Dopplungen und Parallelisierungen“ durchzogen.
Das Mädchen als Hermaphrodit taucht in Meads Bildern vereinzelt auf: es zeigt seinen Penis stolz, benutzt ihn sogar um ein anders Mädchen damit zu penetrieren. Oft wird der Phallus auch nur angedeuet: das defäkierende Mädchen Hat einen „Penis aus Scheiße“, der Urinstrahl deutet eine Ejakulation an.
Begreift man den Phallus nicht als Objekt, der den männlichen Körper auszeichnet und dem weiblichen fehlt, sondern als Signifikanten innerhalb einer symbolischen Ordnung, offenbart sich die tiefe Gespaltenheit des Subjekts.
Durch die Aneignung des Körpers des kleinen Mädchens sind die Künstler Mead und Dargher dazu in der Lage, ihre eigenen, traumatischen Kindheitserfahrungen abzubilden und gleichzeitig die Gewaltphantasien, die sich auf diesen Körper richten, wirkungsvoll zu bannen.
Henry Darger gründete zu Lebzeiten er zusammen mit William Schloeder, dem einzigen Freund den er jemals hatte, einen Geheimclub zum Schutze der Kinder („The children’s protective society“), dessen Aktivitäten hauptsächlich darin bestanden, kleine Mädchen auf dem Spielplatz zu beobachten: Bei der Sorge um ein Kind wird das, was dem Kind angetan werden könnte, immer mitgedacht. Der Missbrauch ist also stets Teil der Beschützerphantasie.
Der „umgestülpte“ Körper des Penis-Mädchens verweigert den voyeuristischen Blick, indem es Aspekte des (weiblichen) Opfers und des (männlichen) Täters in sich vereint
Geht man von der These aus, das Frauen Erzeugnissen der männlichen Bildproduktion  nur durch die Maskerade annähern können, indem sie die als männliche konnotierte Position des Betrachters einnehmen,  so zwingen  die  Bilder von Mead und Darger  den männlichen Betrachter dazu, die Maskerade des kleinen Mädchens anzulegen.

Indem sie die enggesteckten Grenzen des binären Geschlechtermodells transzendiert, wird die Figur des kleinen Mädchens an ihren mythologischen Ursprung zurückgeführt und zeigt sich nicht als Zwitterwesen, sondern als ein „pandrogynes Geschöpf, das dem Reich des Kindes entstammt, das wir alle gewesen sein werden“

Draußen in der Welt  wird währenddessen die Haut des kleinen Mädchens weiter zu Markte getragen, um die bürgerlich-heterosexuelle Matrix zu repräsentieren und manifestieren. Dass die weiße Kind-Frau als Trophäe überaus begehrenswert ist, steht außer Zweifel. Täglich erfährt man in den Zeitungen von männlichen Unholden, die es darauf abgesehen haben, das kleine Mädchen an einen finsteren ort zu verschleppen. An einen Ort, an dem die Grenzen zwischen Fürsorge und Missbrauch verschwimmen. Als der österreichische Unhold Josef Fritzl im Polizeiverhör gefragt wurde, warum er seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem Kellerverlies gefangen hielt, antwortete er: „Um sie zu beschützen.“


 C.G. Jung: Zur Psychologie des Kinderarchetypus (1940), München 2006, S. 109
 ebd. S. 130
 Der vollständige Titel lautet: „The Story of the Vivian Girls, in what is known as The Realms of the Unreal, of the Glandeco-Angelian, caused by the Child Slave Rebellion“
 Andreas L. Hofbauer: Aus dem Guckkasten des Singulären, für stmead.com 2006
 Z.B. Ghazi Barakat: The Late Great Aesthetic Taboos, in: Apocalypse Culture 2, Kalifornien 2000
 „Da gibt es irgendwie keinen Weg raus.“ Stu Mead im Gespräch mit Sarah Diehl, erschienen im Kompendium Brüste kriegen, Berlin 2004
 Hofbauer
 ebd.
 Vgl. dazu Jaques Lacan: La Signification du Pahllus, in: ders., Ecrits, Paris 1966.
 In einem Text zur Kunst Henry Dargers verwendet A.M. Homes den englischen Begriff „inside-out“, in: ArtForum, Mai 1997
 Vgl. dazu: Joan Riviere: Weiblichkeit als Maskerade (1929), in: Liliane Weissenberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M. 1994
 Hofbauer