Aus dem Guckkasten des Singulären

von Andreas L. Hofbauer

für stumead.com im Dezember 2006

Zu den Bildern Stu Meads etwas beizutragen, wie beiläufig und marginal dies auch immer sein mag, scheint mir zuerst zu fordern, eine unwirtliche Einladung rundweg auszuschlagen. Nämlich die vom bösen Schwesternpaar "Transgression" und "Wille zur Zensur". Weiß man doch je schon im Voraus, mit wem man Tisch – und anschließend vielleicht auch noch Bett – teilen wird. Die eine Schwester ist voll diabolischer Freude am Tabubruch, an der Maximierung dekadenter Schaustellung. Die andere unentwegt damit beschäftigt, ihre Faszinations-, Scham- oder Ekelgefühle mittels des Korsetts moralischer Heuchelei zu schnüren und nach mehrheitlicher Anerkennung (moral majority) lechzend. Was erstere bei jeder Gelegenheit vorzeigen will, streicht letztere augenblicklich mit dem schwarzen Balken der Entrüstung.

 

Nun berichtete auch schon Sigmund Freud Wilhelm Fließ in einem Brief vom 21. 12. 1897 von der russischen Zensur an der Grenze, die "Worte, ganze Satzstücke und Sätze schwarz über[streicht], so daß der Rest unverständlich wird" und gleiches beweist die Art und Weise des Abdrucks von Meads Bildern in Adam Parfreys Apocalypse Culture 2 handfest. Will man aber mit dem Rest – also dem, was bleibt und derlei Machenschaften über-lebt – Umgang haben, so suche man sich eine gastlichere Umgebung. Das heißt: Zur Betrachtung des Idiosynkratischen, Uniken und Akzidentiellen, mit einem Wort all dem, welches sich der billigen Verallgemeinerung entzieht, bleibe man am besten allein! Man tue es dem verstoßenen "Bärenhäuter" am Beginn des Märchens der Brüder Grimm (# 101) gleich. Auf einer Waldlichtung ausharrend – doch nicht umgeben von Bäumen, sondern diesmal von Bildern. Und noch bevor der Mann mit dem grünen Rock und dem garstigen Pferdefuß in Erscheinung tritt!

 

Was zeigt sich uns dann in den Bildern, die uns nun zu umringen beginnen? Urinierende und defäkierende kleine Mädchen; Pelztiere, die sich schamlos deren Scham nähern, schnüffeln und lecken; riesige Gemächte, welche die kleinen Vulvas aushöhlen; teuflische Fabelwesen (unter ihnen auch Pfarrer, Lehrer, Polizisten und Jesus höchstpersönlich), welche – zumeist im religiösen, strafenden oder examinierenden Kontext – sich eben diesen Mädchen unsittlich nähern oder sie kopulieren; intime und geheim scheinende Szenen, in welchen sich die Mädchen gegenseitig Posen hochgradiger Erotik abringen; großnasige Greise und lüsterne Zwerge, die sich über das ausgefaltete Mädchenfleisch hermachen, sich dessen Kommando ergeben oder es aus voyeuristischer Distanz betrachten. Wer dies in erster Linie als vulgäre männliche Phantasie sieht, übersieht zumindest, dass all diese Bilder durchzogen sind von unzähligen offenen oder versteckten Spiegelungen, Dopplungen und Parallelisierungen. Entlang bestimmter Kippachsen verweisen affektive Besetzungen und Entsetzungen aufeinander (zum Beispiel der erigierte und vaginal eindringende Penis auf die Kotsäule, die den analen Sphinkter verlässt; die kosenden Mädchenlippen an der mit einem Federbusch geschmückten Fellmütze eines Spielzeughusaren; oder am augenschein-lichsten: ein mit einem Godemiché versehener Spiegel, an dem ein Mädchen lutscht, während es sich zugleich dabei betrachtet usw.). Neben diesen Achsen, die als nicht sichtbare Schnittlinien und zugleich als Scharniere in einem abgeschlossenen Phantasieraum erscheinen, sind es Abzählungen im Seriellen, welche die Bilder bestimmen. Das bezieht sich auf deren Inhalte (drei Schwäne über ein Mädchen gebeugt, vier oder sieben oder drei Zwerge beim Sex usw.), wie auch auf ihre materielle Erscheinungsform. Lässt sich doch jedes Bild als eines in einer nicht finalisierten Reihe begreifen und wiederholt Nicht-Gleiches oder Deviantes immer wieder auf’s Neue. Damit öffnet sich ein magischer Schauraum, der sich durch seine explizite Bezugnahme auf infantil-erotische Phantasien (vorzugsweise in der Gestalt des urethral Erotischen, des Anal-Sadistischen und der frühkindlichen Verführungsszene) auszeichnet. Das fordert selbstverständlich beim moralischen Betrachter sofort den Griff zum denunziatorischen Telefonhörer heraus. Ein Betrachter, der in seiner Entrüstung zwar sehr wohl weiß, was sich zeigt und es auch zu sehen wünscht, dies aber unmittelbar zu zensieren gezwungen ist. Eben deshalb, weil er die Segmentierung nicht sistieren kann, das heißt in jedes dieser Bilder gleich (s)eine personalisierte Geschichte, also das Gegenteil eines Märchens, hineinlesen muss.

 

Wenn also die kleinen Mädchen mit erhobenen Röckchen pissen, dann lüften sie nicht nur ein Geheimnis, sondern die Mädchen verwandeln sich (und mit ihnen die gesamte Szenerie, also auch alle anderen Figuren im Bild!) in ein pandrogynes Geschöpf, das dem Reich des Kindes entstammt, das wir alle gewesen sein werden. Das Märchenhafte dieses Vorgangs einer Inversion durch Bilder liegt darin, dass dasjenige, was durch das verschriftete Märchen verschleiert bleibt, durch das Bild offengelegt wird und dadurch auch angreifbarer. Man könnte sich also mit Recht fragen, für welche ungeschriebenen Märchen die Bilder Stu Meads Illustrationen sind. Gewiss aber sind in erster Linie Spuren einer Vergangenheit, die als solche niemals gegenwärtig war. Weder imaginäre "Urszenen", noch reelle Alltagsereignisse repräsentieren sich in den Bildern, sondern die Bilder erfinden sie – mit grimmigem Humor - erst einmal neu. Und wie es die Brüder Grimm schon immer wussten, ist man hier nicht mit moralischer Erziehung beschäftigt, sondern vielmehr mit einer Sexualität, die sich nicht zuletzt auch dem Reproduktionsschema ihrer technokratischen Verwaltung verweigert.

 

Die Szenerie ist folglich gar keine "Szene", sondern Guckkasten des Singulären. Eine jede Figur entsprungen der Phantasie der anderen, um sich hier nun – augenscheinlich bildlich – in den Armen zu liegen. Denn schließlich: Am Ende holt sich der Teufel die Seelen der beiden bösen Schwestern und der "Bärenhäuter" wird für immer vereint sein mit der dritten, jüngsten und prächtigsten. Mit derjenigen, die ihm gleicht, wie ein Traumbild dem anderen.

Andreas L. Hofbauer (Ph.D.) lebt und arbeitet in Berlin. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, Vorträge, Übersetzungen und Projekte unterschiedlicher medialer Verfassung. Zur Zeit (2006) arbeitet er an einem multimedialen Projekt mit dem Titel PANDROGYN, schreibt seinen ersten Roman und das Theaterstück Novembernächte.

 

Kontakt: Andreas L. Hofbauer